Du brauchst Zeit für dich. Zeit, in der nichts Bestimmtes vorgesehen ist. Zeit, die verrinnen darf, ohne Sinn, ohne Ziel, ohne Ergebnis. Die dazu führt, dass du dir die Schuhe anziehst, losgehst und gespannt bist, wohin sie dich führen. Zeit, die oft nicht da ist. Weil viel zu tun ist, deine Mitmenschen Bedürfnisse haben, die Miete bezahlt werden muss und die Zeit dann dorthin rennt, wo sie gebraucht wird.

Du läufst der Zeit hinterher, weil du sie als hoch empfindsame Person besonders bitter nötig hast. Um die vielen Eindrücke zu verarbeiten, um Gedanken zu ordnen, die das von selbst tun, wenn sie die Gelegenheit bekommen. Um Gefühle so lange fließen zu lassen, bis sie nicht mehr stocken oder Höhen hinabstürzen, sondern friedlich im Boden deiner Seele versinken.

Was tun, wenn die Zeit so dicht verplant ist, dass dir nur ganz wenig davon bleibt, um durchzuatmen, zu entspannen und aufzutanken?

Es gibt ein magisches Werkzeug, dass ich „Zeit in die Länge ziehen“ nenne. Es beginnt mit dem Bewusstsein, dass der jetzige Moment einer der wenig ruhigen, genussvollen der nächsten Stunden beziehungsweise Tage sein wird.

Der nächste Schritt besteht in der Entscheidung, diesen ruhigen Moment in die Länge zu ziehen. Den Anblick der untergehenden Sonne, das Hören des momentanen Lieblingsliedes, die Umarmung beim Abschied des guten Freundes, den Geschmack des Frühstückskaffees.

Schon während dieser Entscheidung passiert Schritt Nummer drei – das Hineingleiten ins Erleben, das Intensivieren des Fühlens, Schmeckens, Riechens, Hörens, das das Unmögliche möglich macht – der Augenblick dehnt sich aus, entschlüpft der Endlichkeit, entflieht dem engen Zeitraster und erhebt sich über die linearen Gesetze einer kurzlebigen Welt.

Das „Zeit in die Länge ziehen“ bedarf einiger Übung. Wie bei allem, was du lernst, geht es am schnellsten, wenn du täglich übst und wie ein Detektiv durch dein Leben forscht, um entspannte, ruhige Momente ausfindig zu machen.

Hast du einen entdeckt, beginnst du sofort damit, ihn in die Länge zu ziehen, in dem du deine Sinne aufrufst, ihn so intensiv wahrzunehmen, dass er mit großen Augen stehen bleibt und vergisst, unbemerkt zu verrinnen.

Bei täglicher Übung profitieren dein Immunsystem, deine Schlafqualität, Konzentration, dein Nervensystem und deine Glücksfähigkeit, um nur einige zu nennen. Es gibt auch einen großartigen Nebeneffekt: Nach einer gewissen Übungsphase ist es möglich, dich ins Auto zu setzen, wissend, dass du zu spät kommen wirst und die Zeit so zu dehnen, dass du nicht oder nur minimal zu spät an deinem Zielort ankommst. Aber das ist der Fortgeschrittenenkurs. Beginnen wir mit dem Ausforschen von ruhigen Momenten.

 

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