Meistens schreibe ich über Hochsensibilität. Sie ist ein Charakterzug, mit dem es sich gut oder weniger gut leben lässt. Je nachdem, wie unsere Bedingungen als Kinder waren und wie unsere Lebensbedingungen jetzt sind. Besser gesagt, ob wir fähig sind, die für uns optimalen Lebensbedingungen zu schaffen oder nicht. Doch es gibt auch sensible Menschen, die dem Charakterzug nicht entsprechen und trotzdem ist Sensibilität ein großes Thema für sie. Menschen, die unter den weiten Begriff „ADHS im Erwachsenenalter“ fallen. Ihnen möchte ich den heutigen Beitrag widmen, weil mich ihre Lebenswege immer wieder sehr berühren.

Jenseits des Zappelphilpps

Wir denken bei ADHS oft an den typischen Zappelphilipp, der den Unterricht stört. Wenige Menschen wissen, dass es ADHS auch ohne den verstärkten Bewegungsdrang gibt, weswegen ADHS bei Mädchen oft nicht erkannt wird. Noch weniger Menschen wissen, dass sich ADHS im Erwachsenenalter oft völlig untypisch zeigt. Erwachsene Betroffene rennen nicht durchs Wohnzimmer wie Kinder durchs Klassenzimmer, sondern sitzen oft ruhig und scheinbar gelassen.

Innerlich werden sie aber sehr wohl sehr unruhig, wenn sie lange sitzen sollen, denken, sie müssten etwas tun. Haben ein anders funktionierendes Zeitempfinden und kommen immer wieder zu spät, können Zeitspannen für Tätigkeiten nicht einschätzen. Häufen Unordnung an und verschieben Routineaufgaben, bis sie ihnen über den Kopf wachsen. Ordnen sich selbst Dinge an, tun sie dann nicht und essen eine Tafel Schokolade aus Frust. Verlegen ihren Schlüssel beinah täglich und trinken Bier, damit die intensiven Gefühle besser auszuhalten sind.  Können sich schlecht konzentrieren, fangen eine Sache an und sind schon bei der nächsten. Gehen in den Keller, um ein Werkzeug zu holen, fangen dort an, in alten Magazinen zu lesen und arbeiten danach an der kaputten Waschmaschine weiter. Falls die Arbeit an der Waschmaschine Spaß macht, sind sie darin so versunken, dass man ihnen dreimal auf die Schulter klopfen muss, um von ihnen bemerkt zu werden. Später beim Abendessen reden sie gar nichts, weil sie frustriert über die schlechten Ergebnisse des Tages sind. Danach in der Bar reden sie ohne Ende von etwas, das sie begeistert, auch wenn das Gegenüber kein Interesse zeigt.

Enormes kreatives Potential gepaart mit Herz

Das hier sind nur einige Dinge, die erwachsenen Menschen mit ADHS passieren können und sind einige der Quellen, die zu einem geringen Selbstwert und viel Konfliktpotential mit anderen Menschen führen. Aus meiner Arbeit mit ADHS Patienten kann ich sagen, dass die Kehrseite der Medaille Menschen mit enormen kreativen Potential, ungewöhnlichem Denken und einem offenen Herzen darstellt. Die Unfähigkeit nein zu sagen, viel zu oft einzuspringen, wenn Not am Mann ist, ohne die eigenen Bedürfnisse zu sehen, stellen große Herausforderungen dar. Sehr oft ist der erste Schritt aus dem inneren und äußeren Chaos die Selbsterkenntnis, womit man es eigentlich zu tun hat. Die Diagnose ist aufwendig und sollte von einem psychologischen Psychotherapeuten mit ADHS-Erfahrung oder einem Psychiater gestellt werden. Doch auch Foren und Sachbücher für Betroffene können eine große Hilfe sein, um dem Problem auf die Spur zu kommen und danach nach einer konstruktiven Lösung zu suchen.

Raus aus dem Leiden

Die Sensibilität von Menschen, die von ADHS betroffen sind, war der Beginn ihrer Leidensgeschichte. Ein Umfeld, in dem sie nicht gut aufgehoben waren und sich frei entwickeln konnten, ihr Problem. Ein Gehirn, das ein bisschen anders funktioniert als die meisten anderen menschlichen Gehirne und sich in unserer Gesellschaft schwerer tut, ist ein weiterer Faktor. Der Weg zu einem erfüllten Leben oft ein steiniger, von Unverständnis und Vorwürfen geprägt. Vom eigenen und dem der Mitmenschen. Und dennoch – Selbsterkenntnis und ein schrittweises sich selbst kennenlernen, Verständnis entwickeln für das Sein und den eigenen Weg eines ungewöhnlichen und kreativen Lebens kann zu mehr Zufriedenheit und Selbstwirksamkeit führen. Alte Verletzungen können geheilt werden und wie Gabor Mate in seinem umfassenden Buch „Unruhe im Kopf“ sagt: „Jeder Mensch kann jederzeit in jedem Alter aus ADHS herauswachsen.“ Oft nur mit therapeutischer Hilfe. Immer mit Achtsamkeit für sich und seinen Lebensweg.

Wenn du dich hier erkennst oder Menschen in deinem Umfeld dich an diese Beschreibungen erinnern: Ich empfehle dir zwei Bücher, die dich in deinem Erkennen und Verständnis weiterbringen:

Immer auf dem Sprung – Leben mit ADHS  von Harald Scherk und Marion Kamp ist sehr hilfreich, um herauszufinden, ob man betroffen ist.

Unruhe im Kopfvon Dr. Gabor Mate ist ein umfangreiches Buch, das zu einem tieferen Verständnis führt und Hilfestellungen bietet.

 

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