„Die Zeit heilt alle Wunden“ hören wir oft schon als Kinder und haben bereits in diesem Moment Zweifel, ob wir die Wahrheit hören. Dann machen wir doch die Erfahrung, dass es nach gefühlten drei Jahren nicht mehr so weh tut, dass die beste Freundin weggezogen ist. Das aufgeschlagene Knie tut schon nach einer halben Stunde nicht mehr weh und wir werden immer wieder Zeugen von der unfassbaren Selbstheilungskraft unseres Körpers.
Auch unsere Seele zeigt erstaunliche Resilienz, zeigte das auch schon, als es das Wort noch gar nicht gab. Wir erfahren immer wieder, dass wir über Dinge hinwegkommen, die uns im Moment unüberwindbar scheinen. Doch wie kann das sein, dass Onkel Hans die Tränen in den Augen stehen, wenn er davon spricht, wie sein Vater ihn vor siebzig Jahren mit dem Stock verdrosch und wieso fällt Heike sichtbar in sich zusammen, wenn sie ihren Unfall vor fünf Jahren erwähnt? Und wieso wird Peter blass und bekommt keinen geraden Satz mehr heraus, wenn seine Freundin ihm vorwirft, er sei nicht für sie da?
Jenseits der Zeitordnung
Zeit heilt viele Wunden, nur entwischen ihr ganz bestimmte Momente. Das Erlebte, das wir als traumatisch empfanden, das einfach zu schnell passierte, auf das wir uns nicht vorbereitet fühlten, das wir nicht verarbeiten konnten, weil uns nicht genug Werkzeuge oder Hilfestellungen zur Verfügung standen. Genau diese Erlebnisse entwischen der Ordnung der Zeit, bleiben irgendwo im luftleeren Raum hängen. Das wäre nicht weiters schlimm, würden sie denn dortbleiben. Da sie sich aber jenseits der Ordnung befinden, haben sie die störende Angewohnheit, ohne Ankündigung wieder aufzutauchen.
Ein Hauch von Lavendelduft, ein Satz mit feindseligem Unterton, ein blonder Pagenkopf, ein blaues Fenster. Belanglose Kleinigkeiten können es manchmal sein, die blitzartig die unverarbeiteten Erlebnisse wieder auftauchen lassen. Ohne Vorwarnung, oft mit intensiven Gefühlen, die nicht der momentanen Situation entsprechen, weil sie ja zur längst vergangenen gehören.
So bin ich doch eigentlich nicht
Anders erklärt gibt es Teile in unserer komplexen Persönlichkeit, die irgendwo steckengeblieben sind. Lena wurde von ihren Mitschülern schikaniert und konnte sich nicht wehren. Das ist dreißig Jahre her. Die siebenjährige Lena begreift nicht, dass die Zeit vergangen ist. Sie befindet sich in einem Loop und tritt zu Tage, wenn Lena, die Erwachsene, eine von ihr als schwach wahrgenommene Kollegin vor sich hat. Dann bekommt die 37jährige Lena das starke Bedürfnis, gemein zu ihrer Kollegin sein zu wollen und ist es manchmal auch, obwohl sie sonst ein sehr friedlicher Mensch ist. Sie versteht selbst nicht, wie sie so reagieren kann und zermürbt sich beim nach Hause gehen mit Selbstvorwürfen. Sie erahnt nicht, dass die kleine Lena sich gerade ermächtigt und ihren Weg der Heilung sucht.
Dem verletzten Teil Raum geben
Viele unserer Verhaltensweisen machen auf den ersten Blick keinen Sinn, ergeben aber immer Sinn, wenn wir den Mut haben, hinter die Fassade zu schauen. Dann, wenn wir uns auf die Empfindungen unseres Körpers einlassen, die unerwünschten Gefühlszustände mit Interesse erkunden, den verletzten Teilen in uns Raum geben, sie annehmen und liebevoll halten. Dann ist Heilung möglich und es fällt uns leichter, im jetzigen Moment zu leben, zu wachsen und unsere wahre Natur zu erkennen. Eine Abkürzung gibt es wohl kaum. Je mehr Mist wir gesammelt haben, umso öfter müssen wir uns den verletzten Teilen in uns zuwenden. Je weiter wir uns – oft mit gutem Grund- von unseren Körperempfindungen entfernt haben – umso behutsamer müssen wir sein, wenn wir sie erkunden. Aber warum sollte es auch schnell gehen? Es könnte ein spannender Weg mit vielen Geschenken werden, der uns da erwartet.
Jetzt mal ran ans Forschen
Lena nimmt sich einen Moment Zeit, schaltet ihr Handy ab und setzt sich in den Wohnzimmersessel neben den Ofen. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf den Boden unter ihren Füßen, auf den Sessel unter ihrem Gesäß und folgt ihrer Atmung. Sie holt sich bewusst die letzte Situation mit ihrer Kollegin im Büro in Erinnerung. Spürt sofort diese unbändige Lust, ihr etwas zu sagen, von dem sie weiß, dass es Klaras Gesichtsausdruck Richtung Verzweiflung bewegen wird – und spürt, wie sich ihr Bauch zusammenzieht und ihre Atmung flacher wird. Sie forscht, woher sie diese Empfindung kennt und findet sich in der ersten Grundschulklasse wieder, vor den Jungs, die sie mit Orangenspalten anspritzen und ihr immer wieder sagen, wie hässlich sie ist. Eine Welle des Schmerzes überrollt sie, während sie noch einmal bewusst den Boden unter ihren Füßen spürt.