Wenn ich von intimen Beziehungen spreche, meine ich nicht nur Paarbeziehungen. Ich meine auch freundschaftliche Beziehungen, die hinausgehen über gemeinsames Kaffeetrinken oder am See spazieren gehen. Ich spreche von denen, die ein warmes Gefühl im Bauch erzeugen, wenn man an die Person denkt. Die, die sich sicher anfühlen und doch anregend, wie ein Kaminfeuer an einem kalten Wintertag.

Doch was macht sie aus, diese Beziehungen, die das Glücksgluckern im Bauch auslösen?

Da wäre einmal die Vertrauensbasis, die durch Handeln geschaffen wird, das gegenseitigen Respekt zeigt, das ausdrückt, das zwei Menschen füreinander da sind, sich aber nicht die Luft zum Atmen nehmen. Ein füreinander Dasein, das Raum schafft und Möglichkeiten öffnet.

Das ist schon eine Hürde für sich, da das füreinander Dasein auch die Gefahr birgt, dass sich das feine Gleichgewicht in der Beziehung verschiebt, dass es zu eng wird, Abhängigkeiten entstehen und das Gemeinsame den Verlust der Freiheit bedeutet.

Wenn es aber mit einer Mischung aus Liebe und Respekt und der gleichen Portion Selbstliebe und Selbstrespekt gelingt, diese Hürde immer wieder erfolgreich zu umschiffen, dann wäre eine gute Basis für eine beglückende intime Beziehung gegeben.

Von Bierbäuchen und falschem Singen

Damit sind wir jedoch bei der nächsten Herausforderung angekommen. Intimität entsteht dadurch, dass wir uns verletzlich zeigen. Intime Momente beginnen in dem Augenblick, in dem sich jemand sagen traut, dass er sich für seinen Bierbauch schämt oder dass er Angst hat, in seinem Job von Jüngeren überrannt zu werden. Intim wird es, wenn jemand zugibt, dass sie sich wünscht, zu hören, dass sie schön ist, auch wenn sie nicht aussieht wie die kurvig und trotzdem schlanken Mädels im Smartphone. Intime Momente entstehen, wenn jemand von einem absoluten Reinfall erzählt, seine geheimsten Ängste preisgibt oder schlimmsten Seiten offenbart. Sie ereignen sich auch dann, wenn sie ein Gedicht vorliest, das sie geschrieben hat, oder er singt, obwohl er falsch singt und es deshalb seit Jahrzehnten nicht mehr getan hat.

Hochsensible Menschen nehmen die Reaktionen von Menschen ihnen gegenüber besonders wahr. Auch haben sie die Tendenz, sich selbst gegenüber sehr kritisch zu sein. Beide Dinge stehen im Weg, wenn es ums Verletzlich zeigen geht. Beide Dinge sind es nicht wert, sich die Chance auf Intimität zu verbauen.

Ach, du kleiner Wurm

Weil das sich sich zeigen letztlich ein magischer Moment ist. Auch wenn es dann sehr auf die Reaktion des Gegenübers daraufankommt. Im Falle von intellektueller Distanz, analytischem Zerlegen des Verhaltens, Ablehnung oder gar sich lustig machen, rennt die Intimität sich die Haare raufend, laut schreiend davon. Auch das „Du kleiner Wurm, ich helfe dir“ hält sie nicht aus. „Das ist mir noch nie passiert. Das kenn ich gar nicht“ hasst sie wie die Pest und mit „Ich wird jetzt hart und verbarrikadiere mich“ kann sie rein gar nichts anfangen.

Für einen hochsensiblen Menschen sind diese Reaktionen besonders schwer auszuhalten.

Was dann?

In Momenten, in denen wir uns verletzlich zeigen, wünschen wir uns ein Gegenüber, das uns mit Menschlichkeit beschenkt. Das uns wahrnimmt als mutige Menschen, die viel mehr sind als das, was sie in diesem Moment preisgeben, und sich deshalb trauen, es zu tun.

Es verlangt viel Übung, so für jemanden da zu sein. Schmerzlich bleiben mir die Situationen in Erinnerung, in denen ich dessen nicht fähig war, oder meinen Mut zusammenfasste und auf ein Gegenüber traf, das mit der Situation überfordert war. Auch als sehr sensible Person bin ich es anderen gegenüber manchmal nicht.

Die Epidemie der Menschlichkeit

Versagen bleibt also ein Teil des Vorhabens, ohne Zweifel. Doch brauchen wir keine Angst davor zu haben. Es gibt die Beziehungen, die den Fehlern standhalten und es gibt die, die es nicht tun. Manche halten Jahre oder Jahrzehnte, manche nur wenige Wochen. Ob wir uns nun trauen, so zu sein, wie wir sind oder nicht.

Die Chancen von intimen, bedeutungsvollen Beziehungen steigen jedoch mit jedem Versuch, uns verletzlich zu zeigen. Selbst wenn der Andere nicht so reagiert, wie wir es gerne hätten. Wir waren mutig, sind uns selbst ein Stück näher gekommen und unser Herz kann besser atmen. Auf Dauer ist das heilend und auch ansteckend. Wenn ich mich trau, traust du dich auch.

Unser Planet braucht diese Epidemie der Menschlichkeit. Hochsensible Menschen brauchen sie besonders. Dringender denn je. Fang an. Mit deiner besten Freundin. Deinem Kind. Deinem Partner. Heute.

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