Als empfindsame Person hast du möglicherweise eine Abscheu vor Egoismus. Du verstehst die Menschen nicht, die nur auf den eigenen Vorteil aus sind. Du tust dir schwer mit denen, für die Empathie ein Fremdwort ist, deren Bedürfnisse an erster Stelle stehen. Auf keinen Fall möchtest du so sein.
Geben ist für dich ein natürlicher Zustand. Du lächelst den Nachbarn an, der mürrisch den Müll zum Eimer trägt, streichelst die Katze, die um deine Beine streicht, sobald sie dich sieht. Als Lehrer bringst du Verständnis für deine Schüler auf und suchst nach neuen Wegen, als Mutter vergisst du vor lauter Kinder füttern, dass du jetzt, am Spätnachmittag, noch nichts gegessen hast.
Dabei hast du recht. Egoismus funktioniert nicht. Egoismus bedeutet eine Haltung, bei der nur der eigene Vorteil zählt. Diese Rechnung geht nur kurzfristig auf – in persönlichen Beziehungen, Gemeinschaften und dem Auskommen unserer Rasse mit dem Rest des Planeten. Das Gegenteil davon ist allerdings auch keine Lösung. Dich aufopfern, deine Bedürfnisse unterdrücken und glauben, dass beständiges Geben ein Gleichgewicht in einer Welt schafft, in der Egoismus eine Blütezeit zu feiern scheint, ist ein netter Versuch, der allerdings meist damit endet, dass du dich enttäuscht und frustriert in dein Schneckenhaus zurückziehen musst, um wieder Kraft zu sammeln.
Ich plädiere heute für das Nehmen. Das bewusste Hinlangen, das starke Anpacken, das freudige Hände aufhalten. Anhand meines Klienten, der vom Beruf des Lehrers und Vater-seins ausgelaugt war, möchte ich dir verdeutlichen, was ich damit meine.
Michael ist aufgrund seiner Feinfühligkeit ein hervorragender Lehrer. Innovativ, gerecht und kreativ. Als Vater versetzt er sich in die Schuhe seiner beiden Kinder, erkennt ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse und macht um unnötige Machtkämpfe einen Bogen. Trotzdem ist er immer wieder erschöpft und kämpft mit Stimmungstiefs. Er gibt als Ehemann, Vater und Lehrer sein Bestes, doch manchmal beschleicht ihn das Gefühl, dass er nur gibt.
Bis er anfängt, in jeder seiner Handlungen danach zu schauen, was er bekommt. Wenn er seinen Sohn mit dem Rad in die Krippe fährt, trainiert er seine Beine. Bei der Arbeit in der Schule zieht er sich Momente der Zufriedenheit heraus, nimmt bewusst ruhige Phasen der Vorbereitung wahr, genießt die Ferien. In all den kleinen Handlungen des Alltags sucht er mit voller Absicht nach dem, was er bekommt und nimmt somit mit vollen Händen. Er befreit sich aus der Geberrolle und fängt an, auch Empfänger zu werden.
Dieser erste Schritt, bei dem du dir bewusst machst, was du erhältst, ist ein Wundermittel, das der Erschöpfung und Frustration entgegenwirkt, die durch zu viel Fokus auf das Geben entsteht.
Ein zweiter Schritt besteht darin, das Nehmen zu kultivieren. Das nächste Kompliment, das auf dich zufliegt: Nicht wie immer in Deckung gehen. Fang es auf, nimm es, lass es dir auf der Zunge zergehen, schmilz deinen Widerstand und schluck es genüsslich. Ein Geschenk deiner Arbeitskollegen, ein freies Wochenende, ein Festtagsbraten. Hau rein, nimm es auf, pack die Gelegenheit beim Schopf, in vollen Zügen zu bekommen.
Falls ich dich immer noch nicht überzeugt habe, hätte ich jetzt noch zwei Joker in meiner alten, verbeulten Ledertasche: Der erste: Dann, wenn du richtig gut nehmen kannst, bist du umso besser im Geben. Ha, das zieht, oder? Und du weißt, es ist wahr. Sind deine Kraftreserven aufgefüllt, gibst du aus dem Vollen, mit Leichtigkeit und Genuss.
Mein zweiter Joker: Sex wird besser. Als empfindsamer Mensch sind dir sinnliches Erleben und echte Nähe wahrscheinlich sehr wichtig. Für den atemberaubenden Sex, von dem du auch manchmal träumst, reicht aber nicht nur dieses zugegebenermaßen wichtige Standbein. Das zweite beruht im Abenteuer, im Unberechenbaren, in der Fremdheit des Gegenübers. Es lebt davon, dass du nimmst, hinlangst wie beim Ritteressen und statt dem Zustand des Gebens in den der entzückenden Hingabe eintrittst.
Und auch wenn dich Sex im Moment oder überhaupt generell nicht interessiert: Tausch das Wort „Sex“ mit Lebendigkeit. Nehmen bringt für Menschen, die auf Geben konzentriert sind, Lebendigkeit, Kraft und Lebensfreude. Es schafft Gleichgewicht in deinem Denken, Fühlen und Handeln. Es macht dich ganz. Ganz bestimmt ein bisschen glücklicher. Probier’s aus und widersprich mir, wenn deine Erfahrung eine andere ist.