Aktualisiert: 2. Jan 2021
Vor ungefähr sechs Jahren erlebte ich eine sehr schwierige Zeit. Ich lebte in Spanien, das von einer Wirtschaftskrise geschüttelt wurde, genauso wie mein Herz, das nicht den Mut fand, sich zu entspannen. Mein Verstand drehte hohl, suchte rastlos nach Lösungen, dort, wo keine zu finden waren. Angst übertünchte alle anderen möglichen Gefühle.
Ich war gerade dabei, die Wäsche auf meinem Balkon aufzuhängen, der sich über einen tristen Innenhof wölbte, als ich klar und deutlich die Stimme hörte, die sagte „Konzentrier dich auf das Schöne.“ Beinahe hätte ich mich umgedreht, wohlwissend, dass da niemand war. „Auf das Schöne“ rief es verächtlich in meinem Inneren. „Das Schöne wird mir wohl die Miete zahlen, das Schöne wird meine Probleme lösen und mir den Weg zeigen. Stimmen hören zeigt ja ganz klar, in welcher Verfassung ich bin. Mein Leben auf die Reihe zu bekommen wäre wohl ratsamer.
Ich klammerte die letzte Socke fest, so dass sie nicht entkommen konnte, schnappte mein Handy und verließ die Wohnung. Ich hatte immer versucht, eine Wohnung in der Nähe eines Parks zu finden. Meine siebte und letzte Station in Barcelona war Poble Sec, ganz nah dran am Mont Juic, einem Park, der mich täglich mit viel Wohlwollen umfing. Ich liebte seine wechselnden Blumenbeete genauso wie seine verborgenen Ecken, die sich nicht von den eifrigen Gärtnern zähmen ließen.
Ich sog seine Gerüche auf, beobachtete die winzig wirkenden Schiffscontainer des Hafens und aß Bratwurst und Maiskolben vom Grill mit meinen Freunden. Streunte alleine oder in Begleitung durch den Pinienwald und wurde nie müde, mich and er Schönheit des Waldes und der ihm zu Fuß liegenden Stadt zu erfreuen. Warum also nicht die Konzentration auf das Schöne lenken. Im Grunde hatte ich nichts Besseres zu tun. Mein Bankkonto würde sich auch mit dem Blick auf Hässliches, Angst machendes und Ärgerliches nicht füllen. Ich wanderte also wie jeden Tag, nur gab ich der Schönheit, die mich umgab, das Kommando. Ich ließ zu, dass sie sich breit machte in mir, alles andere wegschob, so als könnte die Schönheit ein Bagger mit einer großen Schaufel sein.
Nach einigen Tagen befiel mich die Ahnung, dass ein weiterer Schritt notwendig war. Es ging nun darum, die Schönheit dort zu suchen, wo sie nicht offensichtlich war. Das fiel im Außen gar nicht mal so schwer. Ich liebte Barcelona, also liebte ich alles an der Stadt. Ich musste nur genauer hinsehen, um auch die Schönheit in den Bettler zu erkennen, der würdevoll in der Avenida Augusta, einer wild befahrenen Straße im Stadtteil Example saß. Der Lärm, der Schmutz, es ging mit allem.
Nur mit mir funktionierte es nicht. Ich fand mich meistens hässlich. Ganz allgemein, außen, innen, konkret und diffus, bestimmte Handlungen, Eigenschaften und meine allgemeine Lebensweise. Ich hatte lange vorher von einer Übung gelesen, in der man sich im Spiegel betrachtet und sich sagt, dass man schön ist. „Du bist schön“, nicht mehr als das. Ich fand die Idee oberflächlich und sinnlos. Bis ich mich vor den Spiegel stellte und mir sagte, dass ich wunderschön sei. Ich begann die Übung mit dem Vorsatz, solange vor dem Spiegel zu stehen, bis ich die Schönheit sehen konnte.
Ich stand lange. Mit Tränen in den Augen. Minuten, die zäh verronnen. Mein rechtes Auge blickte mir verletzt und misstrauisch entgegen. Es brauchte lange, bis es annahm, dass ich es mit all seiner Verletztheit schön fand. Es wurde weicher, glänzender, veränderte sein Aussehen. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Ich traf mich von da an noch mehrere Male mit meinem Spiegelbild. Es verlangte Mut und Beharrlichkeit, mich nicht auszunehmen von meinem Anliegen, die Schönheit in allem zu sehen.
Ich schreibe das nicht, um die Übung vor dem Spiegel anzupreisen. Ich schreibe den Artikel, weil ich dir wünsche, dass du deine Schönheit erkennst. Sensible Menschen erfahren viel Ablehnung für ihre empfindsame Art, die Welt zu betrachten, oft schon als Kinder. Die Ablehnung hinterlässt oft tiefe Wunden. Es liegt jedoch so viel Schönheit darin, empfindsam zu sein. Sich Dinge zu Herzen zu nehmen, die Mitmenschen mit ihren unausgesprochenen Gefühlszuständen wahrzunehmen, allgemeingültige Annahmen zu hinterfragen, viel zu lachen und oft zu weinen.
Du bist wunderschön. Innen und außen. So wie es der Großvater im Film „Little Miss Sunshine“ zu seiner Enkelin sagt. Wenn du einen Widerstand bei diesem Satz verspürst, mach dich auf den Weg, deine Schönheit zu entdecken. Finde deine eigene Weise, das zu tun, aber bleib nicht stehen, bis du dich als genauso schön erkennen kannst wie die Sonnenstrahlen, die dich am Morgen an der Nase kitzeln, das Rehkitz, das seine ersten wackeligen Schritte wagt oder die Nachbarin, die mit langen Beinen und wiegendem Schritt an deinem Fenster vorbeimarschiert. Hör nicht auf, bis du die Schönheit in dir wahrnehmen kannst, die immer schon da war und nie vergehen wird. Mach weiter, bis es dir leichtfällt, dich über Komplimente zu freuen, bis du dich nicht größer oder kleiner zu machen brauchst, als du bist. Bleib dran, bis das Erkennen der Schönheit in dir und um dich herum dein Normalzustand wird, etwas das sonnenklar ist, eine Art der Wahrnehmung, die dir zur Verfügung stehst, wann immer du sie wählst. Keine rosarote Brille, sondern eine, die aus Erkennen und Respekt besteht. Setz sie auf, rück sie zurecht und marschier los.