Aktualisiert: 27. Juli 2019
Wenn es ums Spüren geht, sind hochsensible Menschen stark. Der Partner sagt, es ist alles in Ordnung, aber es spürt sich nicht so an. Der Geschäftspartner spricht selbstbewusst, seine Unsicherheit bleibt jedoch nicht verborgen. Die ganze Familie freut sich anscheinend über ein Treffen, warum fühlt es sich bloß ganz anders an?
Sehr oft sehen sich Hochsensible mit der Frage konfrontiert: Ich spür doch, da stimmt was nicht, aber sag ich jetzt etwas, oder nicht?
Meistens liegen sie mit ihrer Wahrnehmung richtig. Am ehesten falsch liegen sie dann, wenn sie eine Ablehnung erahnen, wo oft gar keine ist. Frühere Erfahrungen werden hier in die momentane Situation interpretiert. Aber bleiben wir bei den vielen Momenten, in denen die Wahrnehmung akkurat ist. Der Gesprächspartner sagt oder schreibt etwas, das nicht mit dem übereinstimmt, was andere Antennen melden. Seine Körpersprache, die Intonation der Stimme, die Körperhaltung, die Atmosphäre widerlegen das Gesagte.
Sag ich etwas oder nicht?
In einer Zeit, in der über alles geredet und das Wesentliche meist verschwiegen wird, gibt es keine einfache Antwort. Zuerst ist das Innehalten wichtig, das Nachspüren. Ich empfinde es wie ein „einen Stock tiefer spüren“, mich noch mehr auf das einlassen, was ich wahrnehme. Die Haltung bei diesem Nachspüren ist eine, die die Absicht hat, Verständnis aufzubringen. Ich versuche, jemanden, etwas oder auch mich selber zu verstehen – wissend, dass ich in jedem Fall nur einen Bruchteil dessen wahrnehme, was in dieser Situation wirklich passiert. Ohne dieses Verständnis, ohne Aufmerksamkeit für Raum und Zeit, kommt dann oft ein „Was ist los mit dir? Ich spür doch, dass du etwas hast“, was sehr oft zum Rückzug und Verteidigungsversuchen der Person führt, der wir im Grunde näherkommen möchten.
Dankbar für das Fehlen von Worten
Es gibt Momente, in denen ich meinem Partner dankbar bin, dass er nicht immer alles sofort anspricht. Er schafft damit die Möglichkeit, dass sich Dinge von selbst bewegen, verändern und manchmal auch erledigen. Mein Partner bedankt sich aber auch immer wieder dafür, dass ich mit ihm rede, Dinge anspreche, um die wir beide lieber einen Bogen machen würden. Weil sich dann die Themen bewegen, die ohne Reden zu Barrieren werden würden.
Esther Perel, eine belgische Paartherapeutin, die ich sehr schätze, hat in einem ihrer Vorträge gesagt, dass Beziehungen nicht am Streit scheitern, sondern am Rückzug, am sich Entziehen. Ich bin sicher, dasselbe trifft auf Freundschaften und auch Beziehungen im Berufsleben zu. Wobei die Dynamik des sich Zurückziehens nicht durch ein erzwungenes Gespräch beendet werden kann. Ein achtsames, langsames Zugehen auf den Gesprächspartner, eine freundlich-friedliche Haltung ist oft die einzige Möglichkeit, wieder eine Kommunikationsebene herzustellen, auf der es sich lohnt, zu sprechen.
Wir haben die Fähigkeit, zu reden, ohne etwas zu sagen, ohne in Kontakt zu kommen mit dem, was wirklich in uns passiert und ohne in Kontakt mit unserem Gesprächspartner zu treten. Ebenso haben wir die Möglichkeit, tiefer zu spüren, genauer hinzuhören, und den Moment zu erwischen, in dem Worte Verbindung schaffen – zu unserem Erleben und dem des Menschen, der vor uns steht. Ich wünsch dir, dass du heute so einen Moment erleben darfst.